Freitag, 1. Juni 2012

Freitags Lektüre - Bettina Schuller - DIE TÄGLICHE STRASSE

Immer wieder gehe ich denselben Weg hin und zurück. An manchen Tagen zweimal, wenn es am Nachmittag noch etwas zu tun gibt. Seit vielen Jahren. 

Die Bäume zu beiden Seiten der schnurrgeraden Strasse werden grün und dürr. Man sagt, das geschehe nach einem Rhytmus. Mir aber scheint es, als wären die Äste allzulang dürr gewesen.

Ich werde diesen Weg auf und ab gehn, bis meine Dienstjahre um sind. Immerhin noch einige tausend Mal und dann - weiter, wie ein Pendel, das ausschwingt. Wohin sollte ich auch gehn, nach so langer Zeit? Meine Augen saugen sich am Pflaster fest. Meine Schritte sind in die Strasse gewachsen, meine Muskeln ahmen ihre Entfernungen nach. Der Weg ist ziemlich lang, ungefähr zwei Kilometer, fünfundzwanzig Minuten zu Fuss.

Allmählich ist er rund geworden wie die Welt, und dem Runden kann man nicht entgehen, auch nicht den runden Gedanken, die sich im Gehirn manchmal wie Reifen ineinanderschieben, und man glaubt bei aller Ruhe und Nüchternheit, dass man nun wahnsinnig wird, und vielleicht ist auch ein wenig Hoffnung dabei. 

Aber dann kommt der Strassenübergang, ein Auto bremst, und der Reif im Gehirn lockert sich, die Gedanken fließen weiter, fließende Bänder; an manchen Stellen glänzen sie auf, aber immer seltener.

Dabei geht in der Strasse allerei vor sich, sie ist ausgefüllt mit einem zähen grauen Brei von Ereignissen, die durcheinander brodeln, und es wäre wohl die Aufgabe einer großen Seele, die Menschen daraus hervor zu fischen und sie abzubürsten, bis sie wieder farbig sind, rot und braun und hellblau und weiß, gut und böse. 

In meiner langen Strasse trägt sich die ganze Welt zu. Da gibt es Männer und Frauen, Säuglinge und Sterbende; was braucht es mehr? Auf der ganzen Welt laufen Menschen hin und her - dieselben Strassen -, und von den Millionen Gesichtern sehen sie immer wieder die gleichen, und überall werden die Strassen rund, die Enden schließen sich.

Ich möchte manchmal sehr viel Glühwein trinken, obwohl das Strassenkomitee Stecklinge setzt.

Text vollständig übernommen aus: Worte und Wege - Junge deutsche Prosa in Rumänien, eine Anthologie von Hans Liebhardt, Kriterion Verlag Bukarest 1970, Seite 182